TRÄUME UND KÖRPER

 

Stanley Keleman ist seit den frühen Siebziger Jahren Mitglied des AAP. Seit über 25 Jahren lebt und arbeitet er in Berkeley, Kalifornien, wo er auch seine Privatpraxis hat. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er liest weltweit über Formative Psychologie und deren klinische Anwendung und beschreibt den lebendigen Verkörperungsprozess in zahlreichen Veröffentlichungen. Derzeit macht er Videofilme, die die somatisch-emotionale Imaginationsfähigkeit und die Funktionsweise des menschlichen Organismus zum Thema haben.

Innerhalb einer somatisch ansetzenden Arbeit mit Menschen wird die enge Wechselwirkung zwischen Träumen und Verkörpert-sein deutlich. Träume sind wichtige unmittelbare Aussagen unserer tiefsten körperlichen Wirklichkeit. Sie wollen vom wachen Gehirn beachtet werden, damit dieses das emotionale Wachstum seines Körpers entsprechend weiterentwickelt. Ich meine, dass die Träume mit den jeweiligen Entwicklungsstadien unseres verkörperten Seins korrelieren.

Die Verbindung zwischen Somatischer Arbeit und Träumen fing, an mich zu interessieren, als ich bei mir selbst entdeckte, dass es einen Zusammenhang zwischen physischer Arbeit und vermehrter Traumtätigkeit gab. Vergleichbares fand ich auch bei meinen Klienten und deren Träumen. Arbeitete ich beispielsweise am Thema „Selbstbehauptung", an zunehmender Belebung in den Beinen oder auch an der Wahrnehmung, wie der Körper sich von seinen Empfindungen abgetrennt haben mochte, entstanden entsprechende Träume, die je nachdem mangelnde Unterstützung, Fallen oder auch zuversichtlich Ausschreiten-können zum Thema hatten. Wie der Körper sich selbst erträumt,  ist richtungweisend für die Therapie. Beispielsweise fordert der Übergang in eine andere Altersstufe die Auseinandersetzung mit dem sich verändernden Körper und damit einer sich verändernden Identität, was wiederum eine entsprechende Arbeit an sich selbst nötig macht, um dadurch möglicherweise weicher oder auch bestimmter werden zu können.

Der Traum zeigt uns, wie das Körperselbst sich einübt und darauf vorbereitet, in Erscheinung treten zu können. Träume sind das Innerste unseres Somas, das sich verkörpern möchte. Sie sind Innere Wirklichkeit, die sich der Sprache der Gesellschaft bedient, obwohl sie selbst in einen vor-sozialen raum-zeitlichen Zustand eingebettet ist. Das zu schwach geformte und zu wenig verkörperte Selbst hungert nach mehr Körper und kündigt dies im Traum an. Somatische Arbeit mit einen Traum heißt Erspüren der Traumcharaktere als Wünsche oder Emotionen, die sich in die Realität des Wachzustandes hinein verkörpern möchten.

Der argentinische Schriftsteller Jorge L. Borges (The Circular Ruins) 
erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich einen Sohn wünschte. Der Mann begann ihn zu erschaffen,  indem er ihn sich Stück für Stück über einen Zeitraum von vielen Nächten erträumte. Als er ihn zu Ende geträumt hatte, erbat er sich vom Gott des Feuers, diesen Sohn lebendig werden zu lassen. Der Träumer entdeckt am Ende, dass er gleich seiner Kreation selbst Kreation eines anderen Träumers ist.

Borges Geschichte gibt uns Einblick in die Rolle, die die Träume im körperlichen Imaginationsprozess spielen. Träume erzeugen Bilder und fassen diese in eine erzählende Form. Im Traumprozess verbindet sich der Körper, der wir bereits sind, mit dem, der im Werden ist. Träume sind Teil eines fortwährenden Beziehungsprozesses zwischen ererbtem Körper und seinem archaischen Gehirn und dem personalen corticalen Körper des neu entstandenen Gehirns. So gesehen sind Träume Bestandteile der Wirklichkeit verkörperten Lebens.

Träume bringen das, was im Werden ist, sich aber noch nicht ganz verwirklicht hat, miteinander ins Spiel. Während der Entwicklung und Ausformung seiner somatischen Identität spricht der Körper in vielerlei Sprachen mit sich selbst. Eine davon ist der Traum. Der Körper als Prozess gesehen, bildet und träumt unaufhörlich seine nächste Gestalt und wie diese verkörpert sein könnte. Borges, der Träumer, beschreibt uns als die Träumenden des Körpers, der wir bereits sind und der wir sein werden.

Seine Geschichte berichtet auch von der inneren Erfahrung in der Traum- und Wachzustand zwei Weisen des Verkörperungsprozesses sind. Träumen können und fähig sein, einen Zugang dazu zu finden, lässt die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, deutlich werden. So lernen wir aus beiden, aus dem Unterschied und aus der Ähnlichkeit von Nacht-Selbst und Tag-Selbst und wie Bedürfnis und Inbild ineinander wirken

Zwischen Körperprozess und Traumbild besteht eine Kontinuität. Der sich seiner selbst nicht bewusste Körper fragt den Cortex nach Bildern für sich. Das wache Gehirn seinerseits bittet den eigenen Körper um Verlebendigung seiner Bilder. Borges Träumer, der sich einen Gefährten wünscht, beschreibt nicht nur einen wörtlich gemeinten Nachkommen, sondern bezieht sich auch auf eine innere Bruder/Sohn-Figur. Sein Thema weist sowohl Parallelen zur christlichen Erlösungsgeschichte auf, in der Gott seinen. Sohn sendet, als auch zur Hebräischen Geschichte des Golem, der als menschenähnliches Geschöpf erschaffen wurde. Das Thema „Selbsterneuerung aus sich selbst durch sich selbst" passt auch in die "Ganzheits-Theorie" der neuesten Erkenntnis in der Evolutionsgeschichte.

Diese Geschichten haben ein gemeinsames Thema, nämlich die Beziehung zwischen den emotionalen, reflektorischen Gehirnzentren und dem wachen volitionalen Cortex. Das Gehirn macht ein Körperbild und erfragt vom Körper dessen Belebung. In Borges Geschichte vertieft sich das Thema, wie wir Menschen an der Gestaltung unserer Existenzformen teilhaben, die uns von der jugendlichen hin zur erwachsenen und ausgereiften Form bis zu der des späten Alters führt

Wir lernen von den Träumen, wenn wir ihren Sinn und Zusammenhang neu zusammensetzen und damit auf unsere somatisch-emotionale Struktur einwirken können. Träume haben eine emotionale Matrix, in die Traumfiguren oder Objekte eingebettet sind. Obwohl wir bemüht sind, die Traumbilder und ihre Repräsentanzen zu entschlüsseln, lernen wir nicht, sie auch als innere Umwelt zu begreifen und sie als Ausdruck einer körperlichen Verfassung zu sehen. Träume sind Teil des Geheimnisses der Somatischen Weisheit, sind Teil des Prozesses, in dem das Soma sich seiner selbst bewusst wird und sich als Subjekt erfährt. Während der Körper in seine Subjektivität hineinwächst, formt der Cortex dazu passende Bilder und entsprechenden motorischen Ausdruck. In der Traumphase bedient sich der Körper seiner corticalen Fähigkeit, Bilder oder auch zukünftige Formen zu entwerfen, und kann so auf sein gegenwärtiges Da-Sein einwirken

Die zwei Erscheinungsweisen des Körperprozesses, die ererbte und die sozial geprägte, organisieren und formen einen dazwischen liegenden subjektiven Bereich. Aus diesem komplexen Ineinanderverwobensein bildet sich eine Lebensgestalt eigenster Art heraus, die ihrerseits auf äußere und innere Form einwirkt. Unser verkörpertes Leben ist Subjekt per se, und das Bewusstwerden seiner eigenen Erfahrung macht diese zur persönlichen Erfahrung. Unser Körper ist das Subjekt seines eigenen Lebendigseins, ist Quelle und Zeugnis für das Leben an sich. Der Körper als Prozess steht absolut mit sich selbst in Beziehung. Träumen heißt, mit sich selbst vertraut sein zu können.

Traumbilder sind Momentaufnahmen des ununterbrochen, aber nicht linear verlaufenden Kontinuums aus den Gestalten, Ausdrucksformen, Empfindungen und Gebärden unserer Leiblichkeit. Die Inbilder des ererbten Körpers, die aus tief liegenden Gehirnzentren aufsteigen, prägen sich unaufhörlich in die aufnahmebereite und dynamische Hirnrinde ein. Das Gehirn funktioniert ähnlich wie die ihm nah verwandte Haut; es nimmt gleich ihr die Körpermuster auf und integriert sie über Osmose und willentliche Beeinflussung der Körper-Pulsationen - (und der Traum ist eine solche) -, so vertieft sich die Beziehung des Körpers zu sich selbst und formt  seine persönliche Identität

Der Traum ist somatische Aktivität, die sich in der Vorbereitung auf den Wachzustand selbst aussagt. Instinkt-Körper, personale und soziale somatische Formen, sprechen zueinander. Manche von uns träumen von dem "Wilden" oder der „Wilden" in uns, auch wenn wir als normale, sozial integrierte Bürger leben. Jeder Anteil unseres Selbst kann durch den inneren Dialog auf Mittelhirn und Cortex einwirken. Die Körperlichkeit als ein erregbares, kontraktiles Kontinuum ist reaktionsfähig und umformbar. Auch Träume ändern, dem Herzen vergleichbar, kontinuierlich ihre Gestalt; sie sind eine Pulsation aus Stabilsein hin zum weniger Stabilen und wieder zur Stabilität zurück. Diese Pulswellen auf Zellebene vertiefen sowohl den Aktionsradius des Gewebe-Stoffwechsels als auch den des emotionalen Ausdrucks. Der Traum, der sich aus der Körperpulsation heraus organisiert, verhilft dem Soma zu personaler Struktur und Präsenz-Bewusstsein.

Die Arbeitsmethode beabsichtigt, den Traum umfänglicher mit seiner eigenen Quelle, nämlich seinem Körper, zu verbinden. Der Fokus liegt hier auf der somatischen Erfahrung und nicht auf seiner Bedeutung und Deutung. Träume teilen uns mit, wie wir uns körperlich organisieren können, um in der Welt zu sein, und wie wir uns in den Körper, den wir leben, "einkörpern". Wir können die Träume dazu nutzen, eine Somatische Wirklichkeit und damit eine komplexe Subjektivität wachsen zu lassen, eine Wirklichkeit, in der vielgestaltige Wirklichkeiten einander umarmen.

In der somatisch orientierten Traumarbeit fordere ich meine Klienten auf, ihre Träume sowohl vom Beginn bis zum Ende als auch vom Ende bis hin zum Anfang zu erzählen, um so eine nicht linear verlaufende Realität erfahrbar werden zu lassen. Durch langsames und kontrolliertes Vorwärts- und Rückwärtsgehen durch die verschiedenen somatischen Gestalten in uns, bringen wir Cortex und muskuläre Muster des Stammhirns miteinander ins Spiel. So beginnen wir, den gegebenen Körper und die Körperbilder des Gehirns erfahrbar zu machen, um mit ihnen vertraut zu werden. Durch diese Annäherung entstehen Empfindungen und Gedanken, die mit dem Hineinwachsen in unseren personalen Körper zu tun haben.

In der Bearbeitung des Traums, im Verlangsamen seiner Sequenzen, im "Einfrieren" seiner Figuren - seiner leiblichen Ausdrucksformen und Gebärden - verlebendigen sich Empfindung und Imagination. Den Traum sowohl vorwärts als auch von rückwärts her zu erzählen bringt seine Figuren deutlicher hervor und etabliert die Beziehung zwischen den verschiedenen Körpern. Dieser Beziehungsaspekt unserer inneren und äußeren somatischen Gestalten fügt unserem verkörperten Sein eine subjektive Qualität hinzu. Somatische Traumarbeit ermöglicht einen Verkörperungsprozess hinein in die Alltagswelt aus Arbeit, Liebe und Beziehungen.

Die praktische Anwendung dieser Methode beinhaltet  5 Schritte:

1. Erinnern des Traumes; in sprachlicher Form und als körperliche Erfahrungen.

2. Verdeutlichen der Traumfiguren; Hervorheben ihrer Struktur und ihres jeweiligen Ausdrucks durch einen Prozess neuromuskulärer Verstärkung und Differenzierung.

3. Nutzen der corticalen und willensgesteuerten Funktion, um die somatischen Strukturen der Traumfiguren wieder in ihre Einzelelemente zu zerlegen. (Schritt 2 und 3 vermitteln eine Erfahrung, die allen somatischen Prozessen zentral ist: Wie können Verhaltensschritte organisiert und wieder aufgelöst werden?).

4. Das Soma übt zu fassen, was aus den Träumen zugänglich wurde; es wird Gefäß für diesen sich ständig neu zusammensetzenden Fluss aus Empfindung und Form, in dem eine beginnende Subjektivität heranreifen kann.

5. Wir verkörpern uns neu, geben unserer Empfindung Form und lassen unsere somatische und personale Identität zu Fleisch und Blut werden.

Träume geben unserer leiblichen Existenz eine Subjektivität. Der körperliche Ansatz der Arbeit gibt dem Soma sowohl ein Narrativ als auch die Möglichkeit eines Wachstumsprozesses,  in welchem es seiner eigenen Bestimmung entgegenreift: geboren zu werden, in der Gegenwart zu leben und zu sterben. In der Bedeutsamkeit dieses Verwirklichungsprozesses spiegelt sich unsere Vorstellung von Ewigkeit.

 

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