Dasein ist Mit Sein: 
To Be There is to Be With
 

DaSein ist MitSein: Dieser Gedanke stammt aus der Existenzphilosophie Martin Heideggers. Für mich bedeutet dieser Satz die Summe therapeutischer Erfahrung. Das heißt für mich: Die Wechselwirkung zwischen Therapeut (1) und Klient ist einerseits beeinflusst durch die Weise, wie der Therapeut in der Beziehung mit sich selbst da ist, andererseits wie er den Klienten in dessen spezifischer Art da zu sein wahrnimmt. Innerhalb dieser Dynamik erfährt der Klient, wie er mit sich und anderen gegenüber präsent ist. Normalerweise erfahren wir nicht, in welcher Weise wir da sind. Andere müssen uns das widerspiegeln.

Formative Psychologie™ - so nenne ich meine Arbeit - stellt fest, dass Präsenz oder DaSein ein somatischer Vorgang ist. Dieser schließt Fühlen, Denken und Verhalten ein. Somatisch da zu sein schließt ein, wie jemand sein gesellschaftlich vorgegebenes und sein persönliches Präsentsein organisiert. Wie wir leibhaft da sind, macht aus, wer wir sind und bildet gleichzeitig ein Umfeld für andere.

Wie wir da sind und eine Beziehung zu anderen gestalten, bildet die Voraussetzung auch für die therapeutische Begegnung. Dabei stellt sich die Frage: Handelt es sich um ein heilendes, förderndes oder formatives Ereignis? Formt sich die Begegnung durch die jeweilige somatische Struktur von Klient und Therapeut? Oder ist sie durch das dargelegte Problem bestimmt?

Da zu sein bedeutet, mit jemandem zu sein: DaSein ist MitSein. Für uns als Therapeuten heisst dies, mit uns selbst und den Kräften in uns präsent zu sein. Wenn wir leibhaft da zu sein vermögen, ändern wir die Qualität unseres DaSeins. Uns anderen mitzuteilen, unser leibhaftes Sein mit anderen zu teilen, bedeutet: Wir sind da mit ihnen, für sie, wir sind da miteinander. Die therapeutische/bildende Aufgabe besteht in der Fähigkeit, im eigenen Körper zu sein mit den jeweiligen Reaktionen und gleichzeitig für eine andere Person empfänglich zu sein.

Wir empfangen unsere Klienten, wir nehmen sie auf, aber wir verleiben sie uns nicht ein.
Die Fähigkeit, einen anderen Menschen empfangen zu können, unterscheidet sich von Qualitäten wie Verständnis oder Empathie. Der Therapeut nimmt den Klienten auf in seiner Art, somatisch-emotional da zu sein. Wenn ein Klient sich in der Gegenwart einer solchen Stabilität und Lebendigkeit befindet, ist er gehalten. Mit diesem Gehalten-Sein geht ein Gefühl von Innerlichkeit einher, das weder gedanklich, noch symbolisch, noch verbal ist. Von einem anderen Menschen empfangen zuwerden, in einem Raum mit ihm zu sein, ihm gegenüber zu sitzen, bringt eine tiefe und sich vertiefende Beziehung mit sich. Diese Qualität von Beziehung berührt beide Menschen. Das heißt auch: Der Therapeut muss für seine eigenen Reaktionen empfänglich sein und gleichzeitig für diejenigen seines Gegenübers. Das ist keine leichte Aufgabe.

Empfänglichkeit und Reaktionsvermögen haben eine somatische Struktur. Sie sind eine leibhafte Haltung. Das leibhafte Selbst des Therapeuten ist dann am besten, wenn es weder hart noch rigide ist. Es sollte eher eine poröse Qualität haben, ohne formlos zu sein. Das Prinzip der formbildenden Fähigkeit, der formativen Psychologie ist zu empfangen und weiter zu gestalten, was wir aufgenommen haben.

Empfänglichkeit heißt nicht, etwas einfach geschehen zu lassen. Es ist - mindestens teilweise – ein willentlicher Akt. Der Therapeut arbeitet daran, seine Reaktionen in sich zuhalten. Sie halten zu können, ein Gefäß für sie zu bilden, ist analog zur Fähigkeit, den Klienten zu empfangen. Er schafft ein Beziehungsfeld, in dem der Klient spüren kann, wie es ist, auf eine gehaltene, "gefasste" Weise da zu sein.

Da sein bedeutet nicht mustern oder prüfen. Wir als Therapeuten benutzen unsere Augen oder unsere Haltung nicht dazu, Klienten zu objektivieren oder auf Distanz zu halten. Wir suchen nicht nach der Ursache von Fehlern oder lesen Anzeichen in Gesicht und Körper hinein. Wir setzen kein verständnisvolles Gesicht auf oder begeben uns in eine Offenheit, die den Klienten einlädt, sich aufzublähen oder in unsere Welt einzudringen, oder die uns umgekehrt erlaubt, in die Welt des Klienten hineingezogen zu werden.

DaSein heißt, mit der eigenen Wärme präsent zu sein – mit der ganz realen Körperwärme. Dies bedeutet, seinen eigenen Körper zu bewohnen, mit all seinen durchlebten Erfahrungen. DaSein ist aufnahmebereit zu sein, empfänglich für Mimik und Körperausdruck des Klienten, für seine augenblickliche Gefühlslage. Der Therapeut kann präsent sein - nicht als Spiegel sondern als jemand, der das an der Oberfläche Wahrnehmbare dazu nutzt, die schweigenden Körperbewegungen und Gesten des Klienten aufzunehmen und in sich zu sammeln. Der Klient spürt so, dass dem Auftauchenden Raum und Zeit gegeben wird- es darf sein, in diesem Zimmer Gegenwart werden und den anderen berühren, es darf erkannt und anerkannt werden.

Mein Anliegen als Therapeut ist die Qualität, in der ich leibhaft präsent bin mit meinen durchlebten Erfahrungen und die Art und Weise, wie mich meine Reaktionen berühren. Der andere Teil von DaSein ist die Weise, wie der andere Mensch, der Klient, mit sich selbst da ist. Therapie ist das, was in jedem von uns geschieht und was sich zwischen uns gestaltet. Wir sind immer im Gestaltungsprozeß, und es ist wichtig, zu dem, was da ist und zu dem, was da sein möchte, ehrlich zu sein.

Einer der Menschen, der mir darin Einblick gab, wie ein Therapeut sein Arbeiten erfährt, war Dr. Medard Boss, ein Schweizer Psychoanalytiker und Vater der Daseinsanalyse. Boss entwickelte Heideggers Verständnis von "Dasein" dahin, dass er MitSein darin einschloss. Vor Jahren, in einem Gespräch mit Boss, bat ich ihn, mir etwas über die Beziehung mit Georg Groddeck zu erzählen. Groddeck war ein deutscher Arzt, der an Freud das Konzept des "Es" weitergab. Unter "Es" verstand Groddeck den Körper. Für ihn war das "Es" wichtiger als das "Ich". Groddeck war gegen das Konzept Freuds, das sich in dem Satz ausdrückte "Wo Es war, soll Ich sein.". Er war auch interessiert an therapeutischer Berührung und an ihrer Beziehung zu Symbolbildung und Krankheit. Er könnte als der erste somatische Psychologe bezeichnet werden.

Da ich mich für das leibhafte Leben interessiere, fragte ich Boss nach seinen Erinnerungen an Groddeck. Boss hat Groddeck besucht, als dieser sterbend in einem Sanatorium lag. Ich wollte wissen, wie es war, mit ihm zu sein, diesem großen somatischen Pionier.

"Ich war ein junger Mann als Groddeck, der viel ältere, in das Sanatorium kam.", erzählte mir Boss. "Groddeck sprach von der Erfahrung, durch sein Es- seinen Körper - gelebt zu werden. Sein Es wisse, wie man sterbe. Er war da, mit seinem Sterben. Der sterbende Mensch hat keine Angst, wenn nur jemand mit ihm ist, meinte er. Groddeck hatte keine Angst, mit seiner Schwäche zu sein, solange er spürte, dass ein Stärkerer ihn begleitete. Als junger Arzt war ich unterwiesen worden, keine Angst vor sterbenden Menschen zu haben. Nun sah ich, wie er da war mit seinem Sterben, wie er von einem uralten, eingeborenen Prozess zum Sterben geleitet wurde. Ich wurde in sein Sterben hinein genommen. Ich war berührt von seiner Präsenz. Ich lernte, dass die Schwäche eines Menschen seine Fähigkeit da zu sein nicht mindert, sondern nur dessen Dauer. Sterben ist ein Mysterium, ein Geheimnis des Menschen, der ins Leben kommt und dann zurückgerufen wird." Ich fragte Groddeck, wie ihn das berührt habe. Er antwortete, Sterben sei eine eigene Form von Präsenz. Diese Erfahrung wurde mir zu einer besonderen Lehre: Information und Ausbildung sind kein Ersatz für das einfache und leibhafte DaSein mit einem Menschen.

Ich fragte Dr. Boss, ob er noch immer Patienten begleite. "Ja", sagte er. Ich fragte ihn, wie es für einen über 80jährigen Mann sei zu praktizieren. Er antwortete mir, es sei leichter, da zu sein mit seinen Patienten und sie in sich zu empfangen. "Es ist genau so, wie es mit Groddeck war." Boss bestätigte mir, dass es in der therapeutischen Situation wichtig ist, mit dem anderen Menschen da zu sein. DaSein ist etwas Physisches und schließt die Summe von Blicken, Gesten, Ausdrucksformen und Körperhaltungen mit ein.

Es gibt die kostbaren Momente, in denen die Tiefe des Leiblichen an die Oberfläche empor kommt, und wir verändern uns dadurch. Manchmal ereignet sich diese Wandlung durch einen Traum oder eine spontane Eingebung. Da taucht ein unbekanntes Gesicht, eine uralte Ausdrucksgestalt, eine leuchtende Schönheit, ein grausamer oder freundlicher Ausdruck auf. Vielleicht erscheint eine Zärtlichkeit oder Empfindsamkeit, die wir uns bisher verboten haben. Diese leibhaften Ausdrucksformen entzünden den Prozess einer Umwandlung in unserem Denken, Fühlen und unseren Vorstellungen. Ein solcher Gestaltwandel verändert unsere Art und Weise da zu sein.

Leibhaft da zu sein ist ein fühlbares emotionales Pulsieren. Es gibt Gezeiten der leibhaften Form: Gesten nehmen zu an Intensität und verflüchtigen sich, Ausdrucksformen kommen und gehen. Diese somatisch-emotionalen Intensitätsgrade formen die Art, wie wir öffentlich und privat da sind.

DaSein ist MitSein :Durch diesen Prozess formen wir uns selbst und erfahren Aspekte von uns im anderen Menschen. Gleichzeitig erfahren wir dabei unsere eigene Wandlung und die Wandlung anderer. Das leibhafte Formen von DaSein ist MitSein  schafft Wert und Sinn.

Die therapeutische Begegnung hat viel Ähnlichkeit mit einem Traum: Ein Traum zeigt sich dem wachen Gehirn und dieses empfängt ihn oder weist ihn ab. Es ist möglich, den Traum zu objektivieren und darin nach Zeichen und Symbolen, Bedeutung und Assoziationen zu suchen. Mit einer solchen Analyse verfehlen wir vielleicht den Traum als Ganzen, all die Qualitäten des Traums und des Träumers, das Erfühlen der Figuren und ihrer Bewegung im Traum. Wir können aber den Traum in seiner eigenen Sprache empfangen und erfahren. Oder wir können versuchen, ihn durch Interpretation zu verstehen. Der Traum sagt, was da ist und wie es da ist. In gleicher Weise ist ein Klient da und vermittelt leibhaft, wie er da ist. Als Therapeuten können wir begleitend da sein mit dem, was leibhaft im Raum auftaucht – mit dem anderenMenschen und mit uns selbst.

DaSein ist MitSein -  da sein, mit jemandem da sein, zusammen da sein. Diese Formel bringt eine transzendente Qualität in unsere Praxis: In der therapeutischen Situation empfangen wir in einer aktiven Weise, wir sind beteiligt an einem schöpferischen Akt. Wir empfangen, was gegeben wird und helfen, es zu verkörpern. Dieser Prozess, der darin besteht, ein leibhaftes Selbst zusammen mit einem anderen zu formen, ist die Grundlage, in der Welt der Arbeit und in der Welt der Liebe zu leben. 

1. Übersetzer: Das Gleiche gilt für die Beziehung Lehrer - Lernender

 

The contents of this site are copyrighted by Stanley Keleman
All Rights Reserved